Die Fotos meiner Mutter | Eine Retrospektive 1981-85
Unseren Familienkern bildeten Mutter und Vater – jung verheiratet, auf sich gestellt, eigenständig – und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, die Schwester drei Jahre älter als ihr Bruder. Wir bewohnten eine M4-Standardwohnung mit drei Zimmern im Wohnblock, vom Vater nach der Schichtarbeit untertage miterbaut, von beiden rasch möbliert, außerdem ein Schrebergarten, ein kleines Auto, später ein größeres.
Das Leben: Ideologisch geprägt, in einem Staat, der behauptete, gegen Eigentum, für Gesundheit, Gleichheit, Arbeit, Bildung und Frieden zu stehen. Wir: freundlich, hilfsbereit, besonnen und fair. Weiße Tauben auf den Transparenten der Maiparade, über den Altären und in Hinterhöfen, rote Tulpen in den Städten, Nelken im Jackett, das Blau am Himmel, gelbe Felder, weiße Wattewolken und Zuckerwatte im Park und ein Fläschchen Wodka beim Leichenschmaus. Eine Oase des Friedens oder eine Erinnerung, die alles Abkömmliche ausblendet und einen unvollkommenen Negativ-zu-Positiv-Abklatsch der Realität hinterlässt.
Lebensmittelknappheit, Warteschlangen, Rationalisierung der Güter und Treibstoffe, Energieausfälle, Szenen der allgegenwärtigen Staatsgewalt, Vulgarismen, Krankheit und Armut gibt es auf den Fotos meiner Mutter nicht – sie sind unerfasst geblieben. Stattdessen findet man ein Familienportrait – zufriedenes Wohlergehen, selbst im Kriegszustand Anfang der 1980er-Jahre, Bilder des unbefleckten Schnees, Bilder einer Kreuzfahrt mit Schildkrötensuppe auf den Tellern und Viktoria-Eis zum Dinner. Ihre Motive sind teils situativ und beobachtend, teils in Pose gestellt und sorgfältig kadriert – letzteres als Effekt der klassischen fotografischen Ausbildung, die sie schon mit vierzehn begann, der Kinematografie-Ausbildung an der Abendschule und der leidenschaftlichen Arbeit tagsüber im Fotostudio. Das Hauptmotiv nach Feierabend und im Urlaub waren wir, die Kinder, im Zentrum des familiären Treibens, in einer Blase aus Freizeit, Feiern, Ferien, mehr oder minder unbeschwert, leicht ohne Krisen, ohne Leid, bewusst wegfiltriert von Augen, die nur das Schöne und Liebenswerte sehen wollten und eine makellose fotografische Erinnerung hinterließen, von der ich, lange nach ihrer Entstehung, Zuversicht zehren konnte. Nahezu klischeehaft wirken ihre Fotos heute, für eine Idee stehend, die Ende der 1980er Geschichte wurde. Gezeichnet direkt aus der Mitte des sozialistischen Staates, versehen mit den Parametern, die er systematisch idealisierte – Gleichheit, Arbeit, Gemeinschaft, Frieden – damals wie heute schwer umsetzbar, weil immer jemand gleicher sein möchte, weil jemand faulenzt, während Andere ackern, weil die Einsamkeit mit den wachsenden Städten zunimmt und weil es vermutlich keinen Frieden ohne Krieg geben wird.
Als wir diese Kulisse im Jahr 1987 verließen, verschoben wir schlagartig die Grenzen dieses Wertesystems nach rechts. So standen wir nicht mehr inmitten der gesellschaftlichen Werteordnung, vielmehr peripher bis marginal in einer überwiegend kapitalfixierten BRD, während das Klischee, in das wir fortan gepresst wurden, deutlich enger wurde und uns zur permanenten Selbstbehauptung drang. Das, was uns ausmachte, drohte uns zu verschlingen, uns auf wenige Aspekte zu reduzieren – Ausländer, Autodiebe, Wodka, Papst, Katholik und Robotnik. Letzteres im neuen Licht betrachtend, da das neue System nicht die Arbeit an sich wertschätzte, sondern zwischen „Arbeit“ und „Arbeit mit einem hohen Ertrag“ differenzierte. Plötzlich sahen wir, dass die Arbeit eines Bankiers offensichtlich und offiziell mehr Wert war als die Arbeit eines Bäckers, gar einer Krankenschwester, die unter Umständen Leben rettete, dass Zeit ans Geld gekoppelt war und den Wohlbetuchten diente, und staunten über die Definition von Freiheit, die an den materiellen Wert geknüpft war.
Sowohl das deutsche Wort „Klischee“ für eine stereotype Betrachtung, als auch das polnische „klisza“ für einen Negativ- oder Diafilm entspringen dem französischen „clieché“ für Abklatsch oder Fotonegativ. Der Abklatsch unseres bisherigen Lebens beschränkte sich auf etwa 70 Filme á 36 Bilder, die meine Mutter in den 1970ern und 1980ern privat machte, und obwohl nur wenige Gegenstände aus unserer Vergangenheit mitgenommen wurden, gehörten die Filme und Fotos zum Hausinventar in der neuartigen Bundesrepublik. Die kleinen, gerollten, rostbraunen Kästchen emigrierten mit uns in die Zukunft, wie Erinnerungen, die einem durch den Kopf gehen, während man seine Stirn gegen eine kalte Autoscheibe auf der A2 stützt und die Vergangenheit an sich vorbeiziehen lässt. Nach und nach brannten sie sich in die kollektive Erinnerung unserer Familie ein, bevor sie mit der Zeit in Vergessenheit gerieten und – auf Keller, Schränke und Schubladen verteilt – der Abnutzung ausgesetzt wurden.
Die Arbeit meiner Mutter gefiel mir schon sehr früh und sie begeisterte mich mit der Zeit immer mehr – schließlich hielten ihre Aufnahmen unsere Vergangenheit fest. Ihre Fotos sprachen mich an und ich spürte in den vorbeiziehenden Jahren deutlich, dass irgendwann eine Begegnung mit ihnen bevorstehen würde. Dass ich sie eines Tages auftauen und in einen Bildband bündeln würde, dass die Arbeit mit den Negativen ein tiefes Erlebnis werden sollte, das mir bis dahin Verborgenes offenbaren würde, ein Rückblick und eine Begegnung mit mir selbst. Viele Fotos kannte ich bereits und sie bildeten und stärkten meine Erinnerung während der vielen Jahre, doch ich entdeckte auch Filme mit Motiven, an die ich mich bei aller geistigen Anstrengung nicht erinnern konnte.
Ich besorgte ein Balgengerät, das ich am Spiegelreflexapparat festmachte. Ich sah von der Digitalisierung mit einem Scanner oder gar der Inanspruchnahme von Servicediensten ab, die die analogen Filme digitalisieren, um ein pures und authentisches Erlebnis einer persönlichen Zeitreise nicht zu gefährden. Stattdessen schaute ich mir Bild um Bild durch den Sucher an, bevor ich abknipste, was einst meine Mutter sah. Es hatte tatsächlich etwas Authentisches und als ich durch das Balgengerät schaute, entdeckte ich Motive, denen meine Mutter vor Jahrzehnten begegnete. Mitunter mich selbst.