Asparagus

1982 | Wrocław 1/4

   

Adrett durch den Park | 5/1982

Ich beginne an der Stelle, an der mein Großvater verstirbt. Schlagartig wird mir klar, dass alles, was ich in diesem Album zeige, für immer vergangen ist. Die erste Bildstrecke, die ich aus den vielen Fotos greife, zeigt einen Spaziergang zu seinem Grab etwa ein Jahr nach seinem Tod. Es ist Frühling und der Grabstein wurde bereits zu Allerheiligen fertiggestellt. Auf den Fotos ist er von zahlreichen Blumen geschmückt – Tulpen, Narzissen, Stiefmütterchen. Meine verwitwete Großmutter Janina, ihre beiden Töchtern und die Enkelin begeben sich Richtung Friedhof. Die jüngere Tochter trägt einen schwarzen Ledermantel und einen Fuchspelzschal und die Enkelin einen markanten grünen Mantel und ein rotes Filz-Béret. In der Hand hält sie Schnittblumen – Gerbera, die mit Asparagus verziert sind. Auf dem Weg halten sie an einem Rosenstrauch und betrachten seine rosa Blüten. Meine Mutter macht eine Aufnahme, bevor die adrett gekleideten Frauen in den Park abbiegen. Danach entstehen weitere Bilder.

Beim Betrachten der Fotos sticht die Moda Polska hervor, die durch Stoffe und Materialien natürlichen Ursprungs bestimmt wird. Dies ist eines von zwei Indizien, die auf das Alter der Aufnahmen hinweisen. Die frischen Blumen sind das zweite Indiz. Sie verweisen auf einen kulturellen Wandel hin zum Pragmatismus, den das Land ab den 1990er-Jahren durchlebt. Die Tradition der frischen Blumen ist vollständig der den Kunststoffblumen gewichen und synthetische Fasern bestimmen die Massenmode. Am Friedhof angekommen, stecken die Frauen den Blumenstrauß in die Vase. Meine Schwester gießt das Beet. Es sind zwei kleine Jungs anwesend, die zuvor einen anderen Weg gegangen sind. Noch ist es üblich, dass Fünfjährige weite Wege unbeaufsichtigt zurücklegen.

Auf einem der letzten Bilder gibt meine Mutter ihren Fotoapparat aus der Hand, um selbst im Bild verewigt zu werden – eine wiederkehrende Angewohnheit in ihrer Fotografie. Bei der Betrachtung dieser Bildstrecke erkenne ich durchgehend den sanften und zarten Fotostil, der dem fotografischen Blick meiner Mutter zu fast jeder Zeit ihres Schaffens beiwohnt, ein Blick, der sich durch eine ausgewogene Distanz zum Subjekt zeigt und eine Sichtweise, die deutlich macht, dass meine Mutter weder der Landschaft an sich, noch dem Detail einen Wert beimisst. Landschaft und Person sind im Ungleichgewicht. Eindeutig erhalten ihre Protagonisten Vorrang, deren Umgebung wird zweitrangig, aber nicht unwichtig. Beim Katalogisieren ihrer Arbeiten fällt mir auf, dass Blumen eine feste Position in ihren Bildkompositionen haben. Sie verzieren ihre Motive wie der Asparagus den Blumenstrauß. Das Attribut taucht hundertfach auf. Ihre Protagonisten posieren mit Blumen und Knospen, verstecken sich dahinter oder riechen an den Blüten – für mich ein offenes Rätsel in dieser oft als grau und trist beschriebenen Zeit.