BIZON

1982 | Krajno 1/5

     

Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Getreideernte | 8/1982

Dieser Titel entsprang einem Gemälde des Malers Willy Tag (1886-1980) aus dem Jahr 1958. Die Umstände seines in der DDR entstandenen Bildes sind mir nicht bekannt. Der Titel passt jedoch zu den fotografischen Motiven dieser Serie. Das Gemälde zeigt eine Ernte im sozialistischen Staat, an der Männer wie Frauen gleichermaßen beteiligt sind. Wahrscheinlich sind die Bestandteile des Bildes einst bewusst arrangiert worden. Möglicherweise unterlag das Kunstwerk der Instrumentalisierung durch staatliche Kontrollorgane und war somit der sozialistischen Idee verbunden.

Nicht ganz aus diesem Zusammenhang gerissen, zeige ich hier eine fotografische Serie, die ebenso wie das Gemälde eine Erntesituation darstellt. Vierundzwanzig Jahre später spielte sie sich in der Volksrepublik Polen ab. Die Fotostrecke bildet für mich das Herzstück der Retrospektive. Sie ist ein Zeitdokument, das den Beweis für die praktische Anwendbarkeit sozialistischer Werte im alltäglichen Leben erbringt – auch wenn dieser keine repräsentative Gültigkeit beansprucht. In den Bildern meiner Mutter scheinen der sozialistische Traum und seine Werteordnung zum Leben erweckt worden zu sein. Auf hervorragende Weise zeigt sie in den Fotografien ihre Intentionen als Fotografin, die zwar selektiv und fragmentarisch die Welt und ihre Menschen festhält, diese aber so fotografiert, wie sie sie vorfindet, unverschönt und für einen kurzen Augenblick dem Alltagsgeschehen entnommen. Neben den ästhetischen Aspekten ihrer Fotografie liefert sie mit diesen Bildern einen dokumentarischen Beitrag, der an dieser Stelle meiner Retrospektive absolute Überzeugungen über das Leben im einstigen Ostblock relativiert und den Betrachter zum Überdenken und zur Aufweichung festgefahrener stereotyper Denkweisen bewegt. Beim Betrachten der Fotos stellt sich die Frage, ob die angestrebten Grundziele des Sozialismus, nämlich die Beseitigung der Kapitalkonzentration, soziale und wirtschaftliche Gleichheit und das Miteinander einer klassenlosen Gesellschaft, die aus heutiger Sicht als unerreichte Utopie gesehen werden, im Jahr 1982 in einem kleinen polnischen Dorf entgegen aller gängigen Meinung für einen kurzen Zeitraum Wirklichkeit geworden waren.

Als ich den Film Stück für Stück zusammenfüge, stelle ich fest, dass er fast lückenlos ist. Die Fotos zeigen eine Getreideernte an einem heißen Sommertag. Im Vordergrund stehen arbeitende Menschen. Zu sehen sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zum Teil in Interaktion miteinander, brüderlich, teils posierend aufgeschlossen und mit direktem Blickkontakt zur Fotografin.

Auf dem Feld arbeiten, neben den Frauen und Kindern, insgesamt sieben Männer. Drei davon sind Landwirte, die ihre Landmaschinen und Arbeitszeit einem jungen Landwirt unentgeltlich zur Verfügung stellen. Der Mähdrescher stammt aus einem staatlichen Kollektiv. Zwei der hier arbeitenden Männer kommen aus der Stadt, darunter mein Vater, der Bergmann im oberschlesischen Revier ist und eigens für die Hilfe auf dem Land beurlaubt wird, sowie ein Ingenieur aus dem nahegelegenen Wrocław – beide sind dem jungen Landwirt bei seiner Ernte behilflich. Ein weiteres Bild zeigt meinen Vater mit Heugabel und einer Armbanduhr aus russischer Produktion am Handgelenk. Außerdem sehen wir ein Foto, das zeigt, wie zwei der Männer sich brüderlich einen Handschlag schenken, als Dank für die erbrachte Arbeit. Es sind der junge Landwirt und der Mähdrescherfahrer. Auf weiteren Bildern sind Frauen zu sehen, die abwechselnd ein Kleinkind auf dem Arm tragen. Die Frauen fotografieren sich offensichtlich gegenseitig, eine davon ist die Fotografin selbst. Noch ein weiteres Bild zeigt Männer, die mit Flaschen in der Hand an einem Auto angelehnt ihren Durst stillen. Direktes Mittagslicht und eine sommerliche Farbgebung stilisieren die Aufnahmen nahezu malerisch und verwandeln sie in eine wundersame Sommerlandschaft. Assoziativ denke ich an realistische Bilder Edward Hoppers oder an Gemälde des sozialistischen Realismus der 1950er-Jahre sowie an die frühe plakative Grafik im Sozialismus, die auf verblassten Fassaden, in alten Büchern und auf Transparenten auf dem Dachboden vereinzelt noch bis zum politischen Systemwechsel im Jahr 1989 in der Volksrepublik auffindbar waren. Es waren Motive, die den Menschen in seiner Rolle als Proletarier darstellten, voller Arbeitseifer, der Zukunft euphorisch aufgeschlossen, gleichgestellt. Motive, die seit den 1930er-Jahren als Waffe im Klassenkampf dienten, Bilder eines menschlichen Traums von Gleichheit und Gerechtigkeit, die sich kollektiv einbrannten, und jetzt entdeckte ich sie in den Fotos meiner Mutter als Beweis einer zu Fleisch gewordenen Ideologie. Wahrhaftig und natürlich lebten wir diese Werte zufällig an einem heißen Augusttag, als sie ins Bild gerieten.

Die Fotos von der Getreideernte erwecken in mir den Anschein, dass der sozialistische Realismus nicht ausschließlich und pauschal als Lüge im Bild zu verstehen ist. Seine naturgetreue Erscheinung muss nicht zwangsläufig als reine Konstruktion und Darstellung eines utopischen Ideals verstanden werden – demnach entspränge nicht jedes Motiv dieses Genres einer irrealen und unmöglichen Welt. In Anbetracht faktischer, staatlicher Reglementierung und Instrumentalisierung der damaligen Kunst sind solche Überzeugungen zwar naheliegend, sie schließen aber in der Grundhaltung die Möglichkeit des Erreichens sozialistischer Zielsetzungen kategorisch aus und scheitern somit ironischerweise an mangelnder utopischer Vorstellungskraft.