Ortalion

1985 | Krajno 1/6

   

Freiheit auf Schlittschuhen | 1/1985

Mein Vater und meine Schwester fahren über die Weihnachtstage in die Bundesrepublik. Sie kaufen dort ein Blitzlicht der Marke Bauer und auf der Rückfahrt durch die DDR eine Practica BMS electronic mit einem 50mm-Objektiv von Pentacon. Während meine Mutter im Studio meist verschiedene Mittelformatkameras benutzt, weil diese qualitativ gute Ergebnisse liefern, fotografiert sie zu Hause bis dahin mit einer Zenit B. Sie bestückt den Fotoapparat mit verschiedenen ORWO-Filmen, die durch niedrige ISO-Werte auffallen. Sie ist froh, die Filme erwerben zu können. Die Objektive, die sie benutzt, verfügen weder über einen Autofokus, noch über Klarheit im Randbereich. Besonders kritisch ist die Qualität bei offener Blende. Die intuitive Handhabung ihrer Ausrüstung ist schwierig und verlangt Fingerspitzengefühl.

Heute bewundern wir die analoge Fotografie, die Unschärfe, das Korn, bleichende Negative und Fotopapiere. Entropie ist sichtbar, die alte Welt löst sich auf, macht der Erinnerung Platz und taucht dich in die Vergangenheit.

Ich denke zurück. Wenige Autos auf den Straßen. Ein Fahrrad als Motorrad. Ein Schlüssel um den Hals. Die Welt als Bühne. Baden im Teich, platschen in der Pfütze. Spiele auf den Baustellen. Auf der Bahnstrecke. Gefahr. Freibäder, Stadtstrände, Kinos, Eisbahnen, Theater. Kultur. Unermessliche Freiheit, grenzenlose Vorstellungskraft. Klopfstange, Taschenmesser, Steinschleuder, ein Feuer im Herbst. Rudel in der Siedlung und violette Knie. Selbstgemachte Fußballfelder und erfundenes Spielzeug. Niemand ist allein, niemand bleibt zu Hause. Vollbeschäftigung der Eltern gibt Kindern ungehinderte Möglichkeiten und eine Welt auf eigene Faust.

Die damalige Realität meiner Generation unterscheidet sich grundlegend von der heutigen und diametral von der meiner Eltern. Die Fotos meiner Mutter wecken in mir Erinnerungen, auch wenn diese durch die Aufnahmen nur im Ansatz abgedeckt werden, schlichtweg deshalb, weil eine Mutter in der Volksrepublik ihren Kindern nicht auf Schritt und Tritt folgt, folgen will und kann. Manchmal kommt sie einfach mit, um sie zu fotografieren.

Als mein Vater wieder zurück aus der BRD kommt, Anfang Januar, fahren wir für ein paar Tage aufs Land. Es ist ein kalter Winter. Meine Mutter probiert zum ersten Mal den neuen Fotoapparat aus. Die entstandenen Bilder zeigen uns Kinder beim Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich. Ein Hund ist dabei. Damals fotografiert sie oft kleine Gruppen von Kindern, stets in unbeschwerten Momenten und in paradiesischer Ausgelassenheit. Ob diese Art etwas mit ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit zu tun hat? Darüber weiß ich wenig.

Ihre frühen Jahre spielen sich in schwierigen Zeiten ab. Als Kind übernimmt sie existenziell wichtige Aufgaben, die Verantwortung verlangen und die man heute wahrscheinlich keinem Kind zumuten würde. Schon mit vierzehn beginnt sie die Ausbildung zur Fotografin. Entgegen dem elterlichen Wunsch möchte sie nicht Schneiderin werden, dieser Beruf sei altmodisch. Mit sechzehn arbeitet sie bereits in einem Fotostudio und porträtiert Menschen. Mit einundzwanzig wird sie Mutter und zieht nach Oberschlesien, bereits fest im Leben stehend.

Ihre Kindheit verbrachte sie im Wrocław der 1950er- und 60er-Jahre. Es ist die schwierige Zeit der Nachkriegsjahre, denn der Wiederaufbau des Landes ist im vollen Gange. Die Menschen arbeiteten weit über die gängigen Normen hinaus für eine neue Welt, für eine noch nicht geborene Generation von Schlüsselkindern, der Planwirtschaft und der Plattenbauten. Und so, in Anbetracht der Fotos, stellte sich mir die Frage, ob sie nicht als Kompensation der eigenen harten Kindheit und Jugendzeit begriffen werden können. Die Antwort darauf bleibt das Geheimnis meiner Mutter und so bleiben die Fotos als ein Rätsel zurück, das daran erinnert, wie wichtig es ist, Kindern eine gute und sichere Welt zu geben, Freiheit zu schenken, ein wertvolles Gut, das heute zu oft mit materiellem Wohlstand verwechselt wird.